Nur eine Meinung, nicht die Meine

Eine Gegendarstellung zu dem Kommentar von Detlef Esslinger in der Süddeutschen Zeitung vom 30.08.2020.¹

Der Kommentar „Nur ein Völkchen, nicht das Volk“ von Detlef Esslinger, auf den ich mich in diesem Blog-Artikel beziehe, beginnt mit folgendem Satz: „In einer Demokratie hat jeder das Recht, Corona zu leugnen. Aber: Die Demonstranten vom Samstag haben alles gegeben, dass man ihnen nicht zuhören will.“

Nun, Herr Esslinger, dann fangen wir mal an: Niemand – und wirklich niemand – der Demonstranten vom 1.8. und 29.8.2020, die ich kenne, gesehen oder mit denen ich gesprochen habe, leugnet Corona. Dass es Corona gibt, dass unser aller Leben davon beeinflusst wird und dass das auch jedem Teilnehmer der Demo bewusst ist, beweißt ja alleine das Vorhandensein dieser Demo. Denn ohne Corona und die damit verbundenen Maßnahmen und Kolleteralschäden wären all diese Menschen gar nicht auf der Straße.

, so legt es Herr Esslinger in seinem Kommentar dar. Tja, das ist so nicht ganz richtig. Denn selbst bei der ersten mir angezeigten Definition des Wortes Demokratie auf Wikipedia sticht ein Satz ins Auge:

[…]Weitere wichtige Merkmale einer modernen Demokratie sind freie und gleiche Wahlen, das Mehrheits– oder KonsensprinzipMinderheitenschutz, die Akzeptanz einer politischen OppositionGewaltenteilungVerfassungsmäßigkeit, sowie Schutz der Grund-Bürger- und Menschenrechte. […]²

Fällt Ihnen was auf? Ja, Sie haben richtig gelesen, da steht: Akzeptanz einer politischen Opposition, welche eine Meinungspluralität und -diversität voraussetzt. Das bedeutet, dass in einer Demokratie eben nicht nur einer Meinung zugehört wird, sondern allen Meinungen Gehör geschenkt wird, selbst wenn man nicht mit diesen übereinstimmt. Oder um es in Ihren Worten zu sagen: Selbst wenn es die Meinung eines „Völkchen“ ist und selbst wenn dieses „Völkchen“ aus Demonstranten besteht, die „alles gegeben [haben], dass man ihnen nicht zuhören will.“

Nach dieser kurzen Richtigstellung schauen wir uns mal an, wie das „Völkchen“ beschrieben wird:

Aha, wir lernen hier also, dass zehntausende Menschen sich anscheinend blamiert haben, weil sie Regenbogenflaggen getragen, meditiert oder getrommelt oder den Namen des russischen Staatschefs gerufen haben oder ganz einfach, weil Ihnen, Herr Esslinger, offensichtlich deren Frisur nicht passte (zu den Reichskriegsflaggen komme ich gleich). So lächerlich empfinde ich diese Merkmale und Verhaltensweisen offen gestanden gar nicht, allerdings sagt mir diese Beschreibung durchaus etwas über die Einstellung und Intention des Verfassers. Kennen Sie eigentlich den Spruch, was Detlef über Paul sagt, sagt immer mehr über Detlef als über Paul, Herr Esslinger?

Interessant ist auch, dass Sie behaupten, es sei okay, dieses Sammelsorium von LGBTQs, Hippies, Buddhisten oder anderweitig sprituell angehauchten Menschen und Putin-Sympathisanten in eine Schublade mit Rechtsextremisten(!) zu werfen, Herr Esslinger. Vielleicht sollten Sie sich nochmal die Demokratie-Definition weiter oben zu Gemüte führen, denn dort steht auch etwas von Minderheitenschutz und Schutz der Grund-, Bürger- und Menschenrechte. Und was Sie in Ihrem Kommentar schreiben, ist für den Großteil der Demonstranten einer Diffamierung und Diskreditierung und damit nicht nur einem Antasten, sondern einer Verletzung ihrer Würde gleichkommend. (Vgl. Artikel 1 des Grundgesetzes)

So, weiter im Text: Herr Esslinger hat also seit Tagen Rufe aus dem rechten Lager zum „Sturm auf Berlin“ vernommen. Nun, entweder bin ich taub oder habe einfach zu wenig mit dem rechten Milieu zu tun, jedenfalls sind mir diese Aufrufe nicht zu Ohren gekommen. Und selbst wenn dem so gewesen sein sollte, dann hat sich wohl ein Großteil der Menschen, die auf den Bildern, Livestreams und Videos der Demo zu sehen waren, in der Wahl ihrer Flaggen geirrt. Denn dort waren ja, wie Sie selber eingangs in Ihrem Kommentar festgehalten haben, Herr Esslinger, auffällig viele Regenbogenflaggen von meditierenden Rasta-Zopfträgern zu sehen. Und ja, auch Reichsbürgerflaggen waren dort zu sehen, und Sie, Herr Esslinger, stoßen sich nun daran, dass niemand der anderen Demonstranten diese Flaggenträger aufgefordert hat, ihr Mitbringsel einzupacken?! Das kann ich verstehen und mir persönlich gefallen diese Flaggen auch nicht, doch handelt es sich bei der Demo am Samstag, wie Sie ja selber schon in Ihrem vorangegangen Absatz festgestellt haben, um eine Querfront. Ich erspare mir jetzt mal die Mühe die Definition für Querfront-Demonstration rauszusuchen und hoffe, dass Sie mir einfach glauben, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass der Witz an einer Querfront-Demonstration ist, dass Sie ein gemeinsames Anliegen eint und NICHT ihre politische Gesinnung. Dementsprechend sinnfrei ist auch – wie schon weiter oben aufgeführt – Ihr Urteil, dass die Demonstranten selber Schuld seien, wenn sie „mit Rechtsextremisten in einen Topf geworfen […] werden.“, sobald Sie im selben Atemzug von einer Querfront sprechen.

Und, Herr Esslinger, sind wir mal ganz ehrlich: Würden Sie auf einer Demonstration, bei der es um Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Demokratie geht, zu anderen Teilnehmenden laufen und Ihnen auftragen Ihre Flaggen einzupacken oder verbieten ihre Schilder zu tragen, weil dort etwas drauf steht, was Ihnen nicht passt? Ja? Würden Sie? Dann bekomme ich einmal mehr den Eindruck, dass Sie die Demokratie, für die sich die Demonstranten einsetzen und auf die Sie sich in Ihrem Kommentar berufen, mit einer anderen Staatsform verwechseln. Hier ein kleiner Hinweis, was diese Staatsform auszeichnet:

Keine bürgerlichen Freiheiten bzw. die Missachtung der Menschenrechte, keine Meinungsfreiheit, keine Medienfreiheit, de facto keine Religions- und Gewissensfreiheit, keine Freiheit der Kunst und Lehre. Das Pressewesen wird weitestgehend durch den Diktator bzw. die herrschende Partei beeinflusst. Die Meinungsfreiheit wird durch die Zensur unterdrückt oder ist gar nicht mehr vorhanden.³

Ich muss Ihnen aber Recht geben, Herr Esslinger, dass das Auftauchen von Reichsbürgerflaggen und Angehörigen des rechten Spektrums auf Demos, die u.a. unter dem Namen „Tag der Freiheit“ laufen einer gewissen Ironie nicht entbehrt. Oder um es mit den Worten eines von mir sehr geschätzten Kollegen zu sagen: „Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass sich die Rechten dieser Tage für die Demokratie und Freiheit einsetzen“ (und ganz nebenbei bemerkt dafür von den sogenannten Linken beschimpft und niedergemacht werden).

„Hat es irgendjemanden gestört, dass Plakate herumgetragen wurden mit den Porträts von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten in Häftlingskleidung?“, fragen Sie weiter und da Ihnen dieser Umstand vier ganze Zeilen wert ist, möchte ich Ihnen keine Antwort schuldig bleiben. Ja, es hat jemanden gestört. Offenbar hat es nämlich Sie gestört, Herr Esslinger. Sonst würden Sie das Vorhandensein dieser Plakate nicht noch einmal explizit und detailliert erwähnen. Auch wenn ich Ihnen sagen muss, dass es mich schon ein wenig erschreckt, dass Sie diese Plakte, die u.a. Journalisten in Sträflingskleidung zeigten, auf die gleiche Stufe mit Reichsbürgerflaggen stellen und sie damit in Ihren zuvor benutzten Einheitstopf des Rechtsextremismus werfen. Dass man von Seiten einiger Demonstranten die Verantwortlichen der Corona-Maßnahmen für deren gesundheitliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Kolleteralschäden hinter Gitter sehen möchte, ist für Sie vielleicht nicht nachvollziehbar, d.h. jedoch nicht, dass diese Forderung falsch ist. Und in einer gerechten, wahrheitsliebenden Welt wäre sie auch gar nicht so undenkbar.

Interessant bleibt es dennoch, dass Sie sich in Ihrem Kommentar an diesen Häftlingsplakaten aufzuhängen scheinen und ein einigermaßen aufmerksamer und empathischer Leser oder Leserin könnte leicht den Eindruck bekommen, dass Ihr Artikel wohlmöglich deshalb vor allem auf die Lächerlichmachung und Diskreditierung der Demo-Teilnehmer abzielt. Beinahe so wie ein Journalist, der direkt von einer ihn schädigenden oder verletztenden Maßnahme betroffen ist. Nun vielleicht hilft Ihnen ja die Reflektion über die Intention Ihres eigenen Kommentars weiter um sich beim nächsten Mal besser in die Lage der zehntausenden Demonstranten hineinzuversetzen, die oftmals durch die Corona-Maßnahmen sehr viel mehr geschädigt und verletzt wurden, als Sie durch das Hochhalten dieser Plakate.

Diese Menschen gehen für ihre Freiheit, ihre Grundrechte und ihre Selbstbestimmung auf die Straße – nicht wegen, sondern trotz der mitunter auch rechts gerichteten Teilnehmenden. Doch wie auch Berlins Innensenator Andreas Geisel bei der #Unteilbar-Demo 2018 selber sagte: „Wenn ich als Demokrat gefordert bin, gehe ich auf die Straße. Und ich lasse mich nicht davon hindern, dass auch Extremisten die Möglichkeit nutzen dort ihre Meinung zu sagen.“⁴

Und wenn Sie sich nach der Lektüre meiner Gegendarstellung immer noch fragen, warum es am Samstag niemanden gestört hat, „dass Plakate herumgetragen wurden mit den Porträts von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten in Häftlingskleidung?„, dann lesen Sie sich doch einfach nochmal Ihren eigenen Kommentar durch, Herr Esslinger. Denn damit haben Sie ihren eigenen Vorwurf an die Demonstranten, doch Ihre bösen Häftlingsplakate runterzunehmen, ad absurdum geführt.

Sollte Ihnen mein Artikel, diese Gegendarstellung, so wenig zugesagt haben, wie mir Ihr Kommentar, so empfehle ich Ihnen, sich einfach vor Augen zu führen, was ich mir bei all Ihren Worten in Erinnerung gerufen haben: Nur eine Meinung, nicht die Meine!

Quellen:

¹https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-berlin-demonstration-covid-19-1.5014513

²https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie

³https://de.wikipedia.org/wiki/Totalitarismus

⁴ Berliner Morgenpost, 18.10.2018

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